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Rosemarie und Werner Rataiczyk, Entwicklung der Wissenschaften, 1981/82

Bildteppich, 200 x 600 cm

Rosemarie und Werner Rataiczyk, Entwicklung der Wissenschaften, 1981/82 - Fig. 1
Rosemarie und Werner Rataiczyk, Entwicklung der Wissenschaften, 1981/82 - Fig. 1

Das Weben von Bildteppichen in der Moderne hatte in den 1920er Jahren, vor allem im Kreise des Bauhauses, seine erste Blüte erfahren. Nach NS-Zeit und Zweitem Weltkrieg kam es in der DDR in den 1950er Jahren zu einer Wiederbelebung dieser Technik an der Hochschule für industrielle Formgestaltung Halle – Burg Giebichenstein (heute Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle). Der bekannte Künstler Willi Sitte fertigte hier Kartons, also Vorlagen für die Teppiche, die als Auftragswerke im Rahmen der Kunst am Bau-Förderung entstanden. So wurden die Teppiche mit zumeist sozialistischen Themen („Lob der Arbeit“, „Sozialismus und Frieden“, „Lob des Kommunismus“) in neu erbauten Stadtzentren, Bildungseinrichtungen, in Ämtern, Betrieben und Kulturhäusern angebracht. Damit sollten alle öffentlichen Bereiche des Landes, von Wissenschaft, Forschung, Kunst und Kultur bis hin zu Sport und Freizeit mit der neuesten Industrieproduktion geschmückt werden.

Rosemarie (geb. 1930) und Werner Rataiczyk (1921-2021) waren beide in Halle ausgebildet worden und nahmen das neue künstlerische Betätigungsfeld früh auf. Dabei fertigte Werner Rataiczyk die Entwürfe an, die seine Frau Rosemarie am Webstuhl umsetzte. So entstanden Bildteppiche, deren Motive häufig Menschen, Tiere, Pflanzen oder die vier Elemente darstellen und im Laufe der Zeit immer dynamischer und abstrakter wurden. Künstlerische Vorbilder waren die Brücke-Künstler, Paul Klee, Pablo Picasso und Max Beckmann, aber auch Jean Lurçat, ein Vorbild sowohl für die moderne Technik der Bildwirkerei als auch für seine Themen als politischer Künstler.

 Rosemarie und Werner Rataiczyk, Kräfte des Lebens und der Erde 1974/75 - Fig. 2
Rosemarie und Werner Rataiczyk, Kräfte des Lebens und der Erde 1974/75 - Fig. 2

Die Kraft der Farben, die Bewegtheit und die Auflösung der Figuren und Formen in Ornamente scheinen zwar in der Entwicklung der Wissenschaften weit entfernt von den Vorgaben des Sozialistischen Realismus. (Fig. 1) Doch auch hier sollte der Grundtenor das Leben im Sozialismus glorifizieren. Die Entwicklung von Leben – Pflanzen und Tiere – wird eng in Verbindung von Natur und Mensch gestaltet. Im linken spiralförmigen Ornament erscheinen Tiere der Luft und des Wassers neben Erfindungen der Menschheit, dem Rad, der Schifffahrt, der Kunst. Am unteren Bildrand wird diese Symbiose noch deutlicher gemacht, als eine positive Umdeutung des Prometheus-Mythos: Es scheint keine göttliche Strafe mehr zu sein, dass der Adler jeden Tag die Leber des Urhebers der menschlichen Zivilisation Prometheus frisst. Der Gott wurde in der DDR sehr vielschichtig rezipiert, hier scheint er in das Narrativ als Leitfigur einer neuen Gesellschaft gemünzt zu sein, da er gegen die Autorität der Götter rebelliert hatte. In der Mitte des Bildteppichs wird diese positive Sichtweise auf die Wissenschaft fortgeführt, sie wird als denkende Kraft symbolisiert, die jedoch durchaus auch – siehe die Faust – eine aktive Rolle hat. Die rechte Hälfte schließlich verweist auf das friedliche Zusammenleben der Menschen, ein eng umschlungenes Paar ist von Rosen umrankt. Das Sujet für den Bildteppich der Humboldt-Universität, der ehemals im Senatssaal hing, war somit mit Fragen der Wissenschaft im Dienste der Menschheit bestimmt. Das Direktorat für Kultur- und Öffentlichkeitsarbeit, dem auch die Kustodie zugeordnet war, hatte im Entstehungsprozess die Werkstatt in Halle besucht und – instruiert durch den Rektor der HU – mehrfach in die Überarbeitung des Entwurfs eingegriffen.

Ein weiterer Teppich des Künstlerpaars für die Humboldt-Universität, die Gestirne bzw. eigentlich „Kräfte des Lebens und der Erde“ von 1974/75, befindet sich heute an der TU Dresden, in der dortigen Mensa. (Fig. 2)

Autorin: Christina Kuhli, Kustodin der HU
Kunstsammlung / Kustodie der Humboldt-Universität