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Eine indische Tablā (dāyām) im Lautarchiv

Das Lautarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin bewahrt neben seinen Kernbeständen an Audioaufnahmen von Kriegsgefangenen aus dem Ersten Weltkrieg und der Sammlung deutscher Dialekte aus den 1920er- und 1930er-Jahren noch weitere interessante Teilbestände, die bislang eher im Hintergrund standen und zunächst keinen offensichtlichen Zusammenhang zur Sammlung zu haben scheinen. Zum Beispiel drei indische Trommeln.

Zu diesen Instrumenten existiert keine historische schriftliche Dokumentation. Ein Inventarbucheintrag, aus dem hervorginge, wie, warum und woher sie in die Sammlung des Lautarchivs gelangt sind, liegt nicht vor. Instrumentenkundlich bilden die drei Trommeln kein zusammenhängendes Ensemble. Eine dieser Trommeln – eine indische Tablā (dāyāṃ) – soll hier einmal in den Fokus gestellt werden.

Eine indische Tablā (dāyāṃ) im Lautarchiv
Eine indische Tablā (dāyāṃ) im Lautarchiv
Tablā (Draufsicht, ⌀ 20cm); mit der charakteristischen schwarzen Stimmpaste (shāī) in der Mitte. Bei den weißen Flecken handelt es sich um Rückstände unsachgemäß angebrachter Aufkleber, die nicht mehr erhalten sind.
Tablā (Draufsicht, ⌀ 20cm); mit der charakteristischen schwarzen Stimmpaste (shāī) in der Mitte. Bei den weißen Flecken handelt es sich um Rückstände unsachgemäß angebrachter Aufkleber, die nicht mehr erhalten sind.

Zum Instrument

Tablā ist die Bezeichnung für ein mit den Händen gespieltes, aus zwei kleinen Kesseltrommeln bestehendes Trommelpaar. Die mit der rechten Hand gespielte, kleinere der beiden Trommeln heißt auch dāyāṃ (wörtlich: rechts), die in einigen Publikationen manchmal als die „eigentliche“ Tablā bezeichnet wird. Die mit der linken Hand gespielte, größere Trommel heißt bāyāṃ (wörtlich: links). Im Lautarchiv befindet sich nur eine dāyāṃ; das Trommelpaar ist unvollständig. Die Tablā ist mehr als ein bloßes „Objekt“; sie fordert Musiker:innen den Respekt ab, als Individuum behandelt zu werden: Instrument und Musiker:innen werden in gewissem Sinne Eins. Die Trommeln stehen auf dem Fußboden und werden im Schneidersitz gespielt. Es darf aber nicht einfach über eine auf dem Fußboden stehende Tablā hinweggeschritten werden; dies gilt als respektlos.

Zur Provenienz: tentativ-spekulative Denkrichtungen

Einige spekulative Denkrichtungen zur Provenienz seien hier aufgrund fehlender Dokumentation skizziert:

• Nicht zurückgegebene Leihgabe?

Zunächst einmal drängt sich der spekulative Gedanke auf, ob es sich möglicherweise um eine historische Leihgabe aus dem Musikinstrumenten-Museum SIMPK oder dem Ethnologischen Museum handeln könnte. Dies kann für das MIM aufgrund einer fehlenden Kat.-Nr. des MIM am Instrument ausgeschlossen werden. Ebenso für das Ethnologische Museum.
• Gastgeschenk?
Nach Auskunft von Dieter Mehnert, der in den 1990er-Jahren für die Sammlung zuständig war, hieß es seit 1960, die Trommeln seien aus Indien „mitgebracht“ worden. Nähere Umstände seien nicht bekannt gewesen. Ob es sich also um ein im Lautarchiv abgelegtes Gastgeschenk an die Universität handelt, muss offenbleiben.
• Alter des Instruments?
Auch wenn das Instrument vermutlich vor 1960 in das Lautarchiv gekommen ist, lässt dies keinen Schluss auf das Alter des Instruments zu. Es könnte wesentlich älter sein. Belastbar wäre das Alter nur durch eine dendrochronologische Untersuchung festzustellen (eine Datierung über eine Baumringuntersuchung der verwendeten Hölzer), nicht durch bloßen Augenschein.

Im ideellen Kontext der Sammlung

Zwar lässt sich kein direkter Zusammenhang der Tablā mit den übrigen Beständen des Lautarchivs rekonstruieren, doch steht die Tablā im Lautarchiv keineswegs in einem kulturell isolierten Raum. Es bestehen interessante Querbezüge innerhalb der Sammlung, die der Tatsache, dass sich im Lautarchiv eine Tablā befindet, einen ideellen Kontext verleihen. Man denke daran, dass der Nobelpreisträger Rabīndranāth Ṭhākur (রবীন্দ্রনাথ ঠাকুর,1861–1941) im Juni 1921 an der Friedrich-Wilhelms-Universität eine Rede gehalten und ein Lied gesungen hat. Diese Aufnahme befindet sich heute im Lautarchiv (Signatur AUT 48). Ob es sich gar um ein Geschenk von Rabīndranāth Ṭhākur handeln könnte, kann auf der Grundlage des heutigen Wissenstandes noch nicht ermittelt werden. – Ein am 28. September 1926 von Rājamāṇikkam (*um 1902) in der Sprache Tamiḻ (தமிழ்) eingesungenes, mit Tablā begleitetes Lied (Signatur LA 733), gehört leider zu den Verlusten des Lautarchivs.

Symbolkraft einer Tablā im Lautarchiv

Nicht zuletzt steht die Tablā auch symbolisch „inmitten“ der Kriegsgefangenenaufnahmen von indischen Kolonialsoldaten, die das Vereinigte Königreich gegen Deutschland in den Ersten Weltkrieg geschickt hatte. Einer der bekanntesten zyklisch wiederholten rhythmischen Strukturen der nordindischen klassischen Musik ist der sogenannte Tintal (तीन ताल). Seine rhythmisch ausgewogene Gliederung in 16 Trommelsilben (bol), die wiederum in 4x4 Silben unterteilt sind, galt niemand Geringerem als Ravi Shankar (1920–2012) als Symbolkraft für den Frieden. Es sei jedem/jeder selbst überlassen, ob auch die Existenz einer Tablā in der Sammlung des Lautarchivs, „inmitten“ der Audioaufnahmen von Kriegsgefangenen des Ersten Weltkrieges, eine solche Symbolkraft des Friedens annehmen und entfalten kann.

Text und Fotos: Christopher Li
Lautarchiv