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Ceal Floyer, Vorsicht Stufe, 2009

56 Messingschilder
56 Messingschilder

Man mag es nicht gleich als Kunstwerk erkennen, handelt es sich doch auf den ersten Blick um Warnschilder, die wir aus dem Alltag kennen. Allerdings wiederholt sich der Warnhinweis auf jeder Stufe, eine scheinbar übertriebene Potenzierung. Doch leiten uns die Schilder zugleich optisch nicht nur sicher über die Treppe, sondern auch zu einem weiteren Schriftzug hin. In axialer Ausrichtung führt die Warnung zur elften Feuerbach-These von Karl Marx: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ Diese eigentlich nie zum Druck bestimmte These, die zudem durch Friedrich Engels redaktionell leicht verändert wurde, ist im Karl Marx-Jahr 1953 auf Anordnung der SED angebracht worden, um das neu errichtete Foyer nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs nicht nur mit einer Marx-Büste vor dem Senatssaal, sondern auch mit seinem Wort zu schmücken. Auch nach dem Fall der Mauer blieb die These, obgleich der Umgang mit ihr kontrovers diskutiert wurde – sollte sie als „Herrschaftssymbol“ entfernt werden oder galt sie sowieso nur noch als anachronistisch, gab sie vielleicht sogar steten Anlass, um über die jüngere deutsche Geschichte nachzudenken? Schließlich war die Schrift aufgrund ihrer Materialität weder von ihrem Verfasser Marx noch von ihrem Ort, dem denkmalgeschützten DDR-Foyer der Universität, zu trennen. Viele gegensätzliche Geschichtsdeutungen überlagern das Foyer, bilden Schichten mit Stolpergefahr.

Elfte Feuerbachthese
Elfte Feuerbachthese

Die in Berlin lebende, international renommierte britische Künstlerin Ceal Floyer kommentiert diese gedankliche Herausforderung mit Hinweisen auf alltägliche physische Hindernisse. Die Wiederholung der Warnung entkräftet ihre Funktionalität, eine ironische Brechung des deutschen Ordnungs- und Regelsinns, macht dafür aber stutzig. Das Messing der Schilder antwortet auf die goldenen Lettern, die aufgrund ihrer Materialität entgegen dem Ruf nach Veränderung, die das Zitat beschwört, vielmehr Dauerhaftigkeit und Bestand signalisieren. Denkt man an die vielen Symbole und rituellen Verhaltensregeln in der DDR verkehrt sich zudem der Aufruf zur Veränderung zumindest für die Zeit der SED-Herrschaft in die Praktiken der Interpretation (Philosophieren war natürlich auch dabei). Das performative, achtsame und zugleich gestörte Hinaufschreiten der Stufen soll nicht nur den Körper, sondern auch den Geist in Gang setzen. Letztlich bleibt es aber jeder*m selbst überlassen zu entscheiden, ob und was das Stufenkunstwerk bedeutet, ob es ästhetisch, provokativ oder auch gar nicht wahrgenommen wird. Zumindest hat das Marx-Zitat seinen ehemaligen Status als Leitspruch der Universität mit Floyers Kommentierung auch sichtbar verloren.

Autorin: Christina Kuhli, Kustodin der HU
Kunstsammlung / Kustodie der Humboldt-Universität